Me numerai pur remembrance
Marie ai num, si sui de France
(Ich will meinen Namen nennen, um nicht vergessen zu werden /
Marie bin ich, und stamme aus Frankreich)
Aus dem Epilog der Fabeln der Marie de France
So lautet einer der wenigen Hinweise einer mittelalterlichen Autorin auf ihre Identität. Marie de France, wie sie daher genannt wird, werden drei berühmte Werke des Hochmittelalters zugeschrieben, von denen die Lais, eine Sammlung märchenhafter Liebesgeschichten, heute am bekanntesten sind. Ich lernte sie während meines Romanistik-Studiums kennen, als ich mit mäßiger Begeisterung den vorgeschriebenen Altfranzösischkurs absolvierte. Ich war immer neugierig auf Werke von Frauen, aber ich rechnete nicht wirklich damit, dass mir ein Text aus dem 12. Jahrhundert gefallen würde, denn ich stellte mir mittelalterliche Literatur schrecklich religiös und langatmig vor. In dieser Hinsicht war der ungeliebte Altfranzösischkurs eine angenehme Überraschung. Ich las bezaubernde Geschichten über unglücklich verheiratete Edelfrauen, die sich heimlich schöne Ritter als Liebhaber nahmen. Das Verhalten dieser Frauen wurde keineswegs als sündhafter Ehebruch verteufelt, sondern mit Verständnis beschrieben. Nach Ende des Semesters hatte meine Einstellung zu mittelalterlicher Literatur sich gründlich gewandelt, doch sollten ungefähr fünfzehn Jahre vergehen, bis ich wieder mit Marie de France zu tun bekam.
Die Idee, einen Roman über sie zu schreiben, kam sozusagen aus heiterem Himmel. Es war ein sonniger Tag und ich saß im Büro, ohne besonders viel zu tun zu haben. So grübelte ich über mögliche Themen für neue Romane und plötzlich fiel mir diese Dichterin aus dem Altfranzösischkurs ein, von deren Lais ich nur noch ein paar Bruchstücke in Erinnerung hatte. Ich begann nach ihr zu googeln, um zu sehen, ob sich aus ihrer Biographie vielleicht eine spannende Geschichte machen ließ. Leider war das Ergebnis der Suche ausgesprochen unbefriedigend. Es gab keine Biographie, da von der Dichterin kaum etwas bekannt ist außer ihren Werken. Ich stieß auf die Vermutung, dass sie am Hof Heinrichs II von England und seiner Gemahlin, der berühmten Eleonore von Aquitanien, gelebt haben könnte. Diese Herrscherin gehört zu den interessantesten Frauen des Mittelalters, doch wäre mir niemals in den Sinn gekommen, einen Roman über sie zu schreiben, da es davon schon sehr viele gibt. Nun begann ich zu überlegen, ob ich mir nicht einfach eine Lebensgeschichte für die Autorin ausdenken und sie mit Eleonore in Verbindung bringen könnte.
Zunächst besorgte ich mir eine neue Ausgabe der Lais, um mir ein Bild von deren Verfasserin machen zu können. Allerdings ist es schwer, ja nahezu unmöglich, aus dem Werk eines Autors auf seine Persönlichkeit zu schließen, vor allem, wenn diese Person vor fast 900 Jahren lebte. Daher nutzte ich die Liebesgeschichten in erster Linie als Anregung für den Aufbau der Romanhandlung. Die sehr negative Art, wie Ehemänner im Allgemeinen bei Marie de France wegkommen, ließ mich von Vornherein eine unglückliche, arrangierte Ehe für meine Dichterin planen. Dass die Autorin romantischer Liebesgeschichten selbst eine große, verbotene Liebe erleben sollte, lag natürlich nahe.
Die endgültige Geschichte entstand, als ich die Biographie Eleonores von Aquitanien las. Ich kannte die englische Königin bisher hauptsächlich aus dem berühmten Film Ein Löwe im Winter
und lernte erst jetzt ihre vollständige, sehr aufregende Lebensgeschichte kennen. Ihre kurze, eigenmächtige Regierungszeit in Poitiers und die anschließende Revolte gegen Heinrich II passten hervorragend zu der bisher nur schematischen Vorstellung, die ich von meiner fiktiven Dichterinnen-Biographie hatte, und gaben ihr die endgültigen Züge.