Romane

Chinatown

Leseprobe

Chinatown - Umschlagabbildung

1. Kapitel

Mai Ling warf einen letzten Blick auf die riesigen Dampfer, denen die Gerüche fremder Länder und die duftende Weite des Ozeans anzuhaften schien, und überquerte dann ohne Eile den Fischmarkt. Menschengetümmel hüllte sie ein, umschloss sie wie eine sichere Mauer, so dass sie sich in ihrer Fremdheit geborgen fühlte. Langsam drängte sie sich an den Ständen vorbei, musterte die glitzernden Leiber toter Fische, den bunten Teppich aus Obst und Gemüse, um schließlich vor einem Tisch mit springenden Holzfröschen stehen zu bleiben. Forschend betrachtete sie einen gelbgrünen Frosch und nahm ihn vorsichtig auf. Als Kind hatte sie ein ähnliches Spielzeug besessen. Miss Johnson, ihre Lehrerin, hatte ihr eine Ente zum Geburtstag geschenkt, die sich selbst bewegen konnte, wenn man sie auf den Boden setzte und anschubste. Vielleicht hatte diese Ente ihretwegen damals den weiten Weg von Europa nach China gemacht? Mai Ling starrte eine Weile versonnen auf das kleine Wunder der Mechanik in ihrer Hand und grübelte, welche Federn und Schrauben ihm wohl die Illusion von Leben einhauchten.

„Tsching Tschang Tschong“, erklang es an ihrer Seite. Kurz wandte sie den Kopf, um in zwei helle, weiche Kindergesichter zu schauen. Ein vielleicht sechsjähriger Knabe mit strohigem Haar kicherte kurz. Er musste der Sprecher gewesen sein, denn sein weniger frecher Freund hatte sich bereits verlegen abgewandt. Mai Ling richtete die Augen ruhig und eindringlich auf das spöttische Gesicht des Jungen, hielt seinen Blick fest und sah, wie die bleiche Haut von einer Flut von Röte überschwemmt wurde.

„Tut mir Leid, Fräulein. Tschuldigung“, murmelte der Junge, plötzlich kleinlaut geworden. Mai Ling machte durch ein Lächeln klar, dass sie ihm bereits verziehen hatte. Sie wollte nach seinem Namen fragen, vielleicht eine kurze Unterhaltung beginnen, denn es gab nur wenige Menschen hier, mit denen sie zu reden wagte. Ein Kind schien ihr unschuldig, selbst in seiner gelegentlichen Bosheit. Doch bevor sie ein Wort über die Lippen bringen konnte, legte sich eine breite, zupackende Hand auf die Schulter des Jungen, um ihn fortzuziehen. Mai Ling spürte, wie ein abfälliger, misstrauischer Blick sie streifte, dann wurden beide Kinder von der Menschenmenge verschluckt. Der Verkäufer springender Holzfrösche sah die Fremde, die ihm soeben ein Geschäft verdorben hatte, vorwurfsvoll an. Sie entfernte sich schweigend, versank wieder in der Welt des Hafens.

Tagtäglich spieen Schiffe Menschen aus, die in diesem Land der Langnasen fremdartig wirkten und gleich hinter den Kais von Sankt Pauli ihr neues Zuhause fanden, wo sie ihre Fremdheit mit der Fremdheit anderer teilen konnten. Nussbraune und schokoladenfarbene Gesichter zogen an Mai Ling vorbei, vermischten sich mit der Menge bleicher Gestalten, deren Haut in der Sommersonne mitunter zu einem hellen Rot verbrannte.

Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Mai Ling sprach Mandarin, Englisch und mittlerweile auch fließend Deutsch. Doch hier am Hafen verstand sie längst nicht alle Sätze, die dicht neben ihr in die Welt hinausgesprochen wurden. In solchen Momenten erinnerte Hamburg sie an Shanghai, auch wenn sie kaum je Gelegenheit gehabt hatte, die Alsterstadt genauer in Augenschein zu nehmen. Die Sommerhitze war jedenfalls weit milder und trockener, selbst die einfachsten Gebäude schienen groß und robust wie ihre Erbauer, und insgesamt machte das Leben der Einheimischen einen geordneteren Eindruck. Nur das bunte Gemisch der Nationalitäten war ähnlich wie am Shanghais Uferpromenade, dem prächtigen Bund mit seinen Banken, Handelshäusern, Konsulaten und Hotels. Sie wanderte vom Hafen weg, jenem anderen Meer aus Steinhäusern entgegen. Mit einem Mal fühlte sie sich nackt in ihrem abgewetzten, ärmellosen Kleid, das aus einer Sammlung für Bedürftige stammte. Seine ursprüngliche Farbe war schwarz gewesen, vielleicht hatte seine erste Besitzerin es für eine Beerdigung gebraucht, doch der Zahn der Zeit hatte den Stoff allmählich ergrauen lassen. Es reichte ihr bis zu den Knöcheln und war tailliert geschnitten, während moderne deutsche Frauen nun locker sitzende, kurze Kleider bevorzugten. Die Frau, für die es geschneidert worden war, hatte sich vielleicht noch einschnüren müssen, um hineinzupassen. Mai Ling wagte es nicht, die Hafengegend zu verlassen, drehte ihre Runden um die Schmuckstraße herum, wo die meisten Chinesen wohnten. So auch die Familie Wu, deren jüngerer Sohn Liang sie aus Shanghai nach Hamburg hatte bringen lassen.

Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die sie bekommen hatte, um rechtzeitig von ihren Ausflügen zurück sein zu können. Bevor Kundschaft für sie eintraf. Es war kurz nach fünf, so dass ihr etwa noch eine Stunde Zeit blieb. Mai Ling schlenderte gemächlich durch die enge, dunkle Schmuckstraße. Schilder an den Hauseingängen wiesen auf chinesische Geschäfte und Kellerlokale hin. Sie wurden hauptsächlich von Seeleuten aufgesucht, die sich nach Speisen aus der Heimat sehnten oder die nötige Ausstattung für eine neue Schiffsreise brauchten. Sogar ein Heuerbüro stand ihnen zur Verfügung, wenn sie Arbeit suchten. In vielen der kleinen, billigen Kellerwohnungen waren solche Seeleute untergebracht. Auch Liangs Eltern hatten zwei davon angemietet und stellten sie gegen Bezahlung Landsmännern zur Verfügung, die in der Stadt eine vorübergehende Bleibe brauchten. Ein Stück weiter, am Ende der kleinen Straße, befand sich die Wäscherei von Liangs Vater.

Feng Xiao, selbst ein ehemaliger Seemann, betrieb davor eine Garküche, wo er aus asiatischen und europäischen Zutaten Gerichte zauberte, die als chinesisch verkauft wurden, auch wenn niemand in China je von ihnen gehört hatte. Eine Schlange hungriger Langnasen, die regelmäßig vor seinem Verkaufsstand anzutreffen war, zeugte von dem Erfolg dieser Idee. Fengs Frau, von hohem Wuchs und hellgelbem Haar, füllte mit ihren kräftigen Armen die Teller. Es war allgemein bekannt, dass sie noch vor einem Jahr für die Seeleute an der Reeperbahn getanzt und ihren drallen weißen Leib dabei entkleidet hatte – eine öffentliche Entblößung dieser Art hatte Mai Ling bislang vermeiden können. Die meisten der hier ansässigen Chinesen suchten sich ihre Frauen unter den Arbeiterinnen und Prostituierten von Sankt Pauli. Frauen aus ihrer Heimat hatte es selten hierher verschlagen.

Der von Fengs dampfenden Kesseln ausgehende Duft löste ein Knurren in ihrem Magen aus. Mai Ling zählte die Münzen in ihrer Rocktasche, die Liang ihr gegeben hatte. Sie musste den kurzen Anfall von Hunger nutzen, denn die Aussicht auf baldige Kundschaft wirkte sich meist verheerend auf ihren Appetit aus. Unauffällig reihte sie sich am Ende der Schlange ein.

„Ich finde es jedes Mal wunderschön und aufregend hier. Fast als wäre man in China!“, erklang in diesem Moment eine helle Frauenstimme dicht neben Mai Lings Ohr, und die Unsinnigkeit dieser Aussage ließ sie herumfahren. Dann musste sie sich zusammennehmen, um die Besitzerin der Stimme nicht anzustarren. Es war das auffällig gekleidete Mädchen, dessen Haar in der Sonne wie poliertes Kupfer glänzte. Sie holte sich sehr oft Suppe bei den Fengs und war Mai Ling bereits aufgefallen, auch wenn sie noch nie so dicht neben ihr gestanden hatte. Es schien dieser herausgeputzten jungen Frau vollkommen egal, wie sehr sie mit ihren bunten Kleidern, die ihr gerade einmal bis zum Knie reichten, und den zahlreichen Ketten um ihren Hals die Blicke auf sich zog. Sie bewegte sich mit sorgloser Leichtigkeit. Trotz der dunkelrot bemalten Lippen und mit Kohl umrandeten Augen verdiente sie ihr Geld vermutlich nicht als Straßenmädchen, denn dazu schien ihr Benehmen zu unbeschwert, ihre ganze Erscheinung zu fern dem Schmutz, den ein solches Leben an einer Frau hinterließ. Mai Ling wusste, dass er bald schon zu tief in die Poren der Haut saß, um je wieder abgewaschen zu werden.

In den letzten Wochen war das kupferhaarige Mädchen in Begleitung einer anderen Person gekommen, die Mai Ling zunächst Rätsel aufgab. Die hochgewachsene, schmale Gestalt trug stets Hosen und klassisch geschnittene Jacketts, wie es nach der westlichen Mode bei jungen Männern üblich war. Das schwarze Haar war kurz geschnitten, mit Pomade in elegante Form gebracht. Doch die Züge des schmalen Gesichts wirkten zu zart, die Wangen zu weich für einen jungen Mann,

„Ich habe dir doch mal von meiner Freundin Greta erzählt, weißt du“, plapperte die Kupferhaarige weiter. „Also die diesen Chinesen heiraten will. Sie ist bei ihrer Tante aufgewachsen und war als Kind mal mit ihr in Indien. Aber weil die Tante Kommunistin ist, fuhren sie die ganze Strecke in der dritten Klasse. Um sich nicht von den Arbeitern abzugrenzen.“

„Das ist doch völliger Unsinn!“, meinte die Gestalt in Männerkleidern unwirsch. Ihre Stimme machte Mai Ling endgültig klar, dass es sich um eine Frau handelte. „Ein normaler Arbeiter könnte sich niemals eine Fahrkarte nach Indien leisten, ganz gleich welche Klasse. Außerdem käme er gar nicht auf so eine Idee. Was soll er denn dort?“

Sie schien gelangweilt von dem Gespräch, rauchte ihre Zigarette auf und warf sie nachlässig auf den Boden. Ihre Begleiterin redete unbeirrt weiter: „Aber wir beide sind keine Arbeiterinnen. Ich meine, wir könnten uns morgen einfach eine Fahrkarte nach China kaufen, denn dort wollte ich schon immer mal hin. Bei Dr. Katzenberg kündigen und uns zusammen auf die Reise machen. Was meinst du, Sarah?“

Das herzförmige Gesicht der Kupferhaarigen wandte sich offen der Begleiterin zu. Mai Ling staunte über die unverhüllte Sehnsucht nach Zuneigung in den haselnussbraunen Augen. Wie jung und unschuldig das Mädchen wirkte. Es hatte zwar großzügig Schminke aufgetragen, aber offensichtlich noch nicht gelernt, sich mit jenem Schutzpanzer zu umgeben, der persönliche Gefühle verbirgt.

„Alexandra, wir können nicht von heute auf morgen kündigen. Sei nicht albern“, kam es schnell und hart zurück.

Mai Ling musterte kurz die edlen, etwas arroganten Gesichtszüge der Sprecherin. Sie schien ein Mensch, der es für sein selbstverständliches Recht hielt, auf andere herabzusehen.

„Aber Schatz, ich meinte es doch nicht ernst. Es war nur so eine dumme Idee. Ich weiß, wie wichtig dir deine Arbeit ist“, kam es sofort versöhnlich von dem kunterbunten Mädchen. Die kurze Unterhaltung beseitigte alle Zweifel, die Mai Ling über die Art von Beziehung zwischen den beiden Frauen noch gehabt haben mochte.

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