1. Kapitel
Johanna erwachte beim ersten Schlag der Glocken der Iglesia de Santa Lucia und zog das Moskitonetz an ihrem Bett zur Seite. Die Sonne tauchte ihr Zimmer bereits in grelles Licht, obwohl noch ein Hauch nächtlicher Frische in der Luft lag. Ein Blick auf die Uhr neben ihrem Bett verriet, dass es sechs Uhr morgens war. Sie beschloss, die knappe Zeit, bevor die Hitze sich wie ein schweres Tuch über die Stadt legen würde, nicht ungenutzt zu lassen, und trat ans Fenster. Die Türen und Fensterläden der bunt bemalten Häuser von Valladolid waren noch geschlossen - wie die Augen ihrer Bewohner. Nur vom Marktplatz vor der Kirche erklangen die ersten Laute, begleitet vom Schreien der Vögel. Selbst jene schlichten, grauen Exemplare, die in den Bäumen Valladolids wohnten, konnten viel mehr Lärm machen als ihre Verwandten in Europa. Unter ihnen wurden die ersten Verkaufsstände aufgebaut und daher war es auch für Johanna an der Zeit, den Laden herzurichten.
Als Österreicher waren sie in Mexiko nicht besonders beliebt, nachdem Kaiser Maximilian aus dem Land gejagt worden war. Vor sechs Jahren, bei ihrer Ankunft in Sisal, waren sie noch mit Umarmungen begrüßt worden, doch inzwischen galten sie als Kollaborateure eines Eroberers. Selbst die Heirat ihres Vaters mit einer Mexikanerin hatte nicht wirklich etwas daran geändert. Die einzige Möglichkeit, den kleinen Laden am Leben zu erhalten, bestand darin, tüchtig zu sein, exklusive Ware zu günstigen Preisen zu bieten und auch dann geöffnet zu haben, wenn andere noch geschlossen hatten.
„Komm, steh auf!“, rief sie und rüttelte ihre Schwester Kornelia wach, die empört maulte und sich die Decke über den Kopf zog. „Lass mich in Ruhe! Es ist noch mitten in der Nacht.“ „Das stimmt nicht. Die Sonne scheint. Also raus aus den Federn!“ Sie zerrte an Kornelias Decke und bekam zum Dank das Kissen an den Kopf geworfen. „Du bist unausstehlich!“, rief die Schwester, stand aber seufzend auf. „Wenn ich verheiratet bin, werde ich so lange schlafen, wie ich will“, stellte sie fest und streckte ihre Glieder. „Dazu brauchst du erst einmal einen Bräutigam, und den wirst du nicht finden, wenn du die ganze Zeit im Bett herumliegst.“ Johanna warf der Schwester ihr Kleid zu. „Und unsere neue Mutter Anavera schläft wieder einmal so lange, wie sie will“, murrte Kornelia missmutig. „Ohne sie hätten wir nicht einmal diesen Laden“, erwiderte Johanna. „Warte, ich hole Wasser, damit wir uns waschen können.“
Sie lief im Nachthemd los, da sie nicht davon ausging, so früh jemanden im Haus anzutreffen. Im Patio schöpfte sie Wasser aus dem Brunnen und schleppte den vollen Eimer die Stufen hinauf.
„Na endlich!“, rief Kornelia und schüttete sich Wasser ins Gesicht. „Ich halte diese Hitze bald nicht mehr aus. Kannst du dich noch erinnern, wie der Schnee in den Bergen aussah?“ Ihre Stimme hatte einen wehmütigen Tonfall angenommen. Johanna überlegte kurz, während sie ihr Haar mit flinken Fingern zu einem Zopf flocht. „Es war, als würde sich eine Schicht aus Zucker über die Welt legen. Aber die Kälte machte mich jedes Jahr müde und krank.“ Kornelia schüttelte verwirrt den Kopf. „Dort, wo jeden Winter Schnee fiel, war unser Zuhause“, sagte sie leise und streifte dann in ihr Kleid über. „Die Leute kannten unsere Familie seit Generationen. Hier sieht man uns nur schräg an, weil wir Fremde sind.“Sie schlüpfte in ein Paar Sandalen und begann, ihr goldenes Haar zu kämmen. „Wirklich traurig aber ist, dass ich das alles langsam zu vergessen beginne“, redete sie weiter und steckte sich eine rote Papierblume ins Haar. Kornelia war es wichtig, stets hübsch auszusehen. „Wenn ich an verschneite Berge denke, dann weiß ich nicht mehr, ob ich die Zeichnungen unseres Vaters vor Augen habe oder meine Erinnerungen. Die werden immer blasser. Gestern Nacht habe ich versucht, an Tante Rosie zu denken, aber ihr Gesicht konnte ich nicht vor mir sehen.“ Sie drehte sich um und sah Johanna mit veilchenblauen, traurigen Augen an. „Glaubst du, wir werden jemals wieder nach Hause kommen?“ Johanna zuckte mit den Schultern. Wie kam ihre Schwester nur immer wieder auf so merkwürdige Gedanken? Sie waren dreizehn und vierzehn gewesen, als sie die lange, anstrengende Reise über den Ozean angetreten hatten. In Yucatán waren sie zu jungen Frauen herangereift, daher waren Teile ihres Wesens mit diesem Land verwachsen. Johanna konnte sich inzwischen kaum noch vorstellen, auf die leuchtenden Farben, das schrille, lang gezogene Kreischen der Vögel und den kratzend scharfen Geruch von Gewürzen in ihrer Nase zu verzichten. Die Erinnerung an die Heimat begann tatsächlich immer mehr zu verblassen, wie ein Schiff, das durch Nebelschwaden davon segelt, aber dieses Wissen löste keinen Schmerz in ihr aus. Kornelia erging es offensichtlich anders. „Wenn wir mit unserem Laden genug Geld verdienen, kannst du irgendwann die Rückreise nach Österreich antreten“, sagte Johanna und klopfte ihrer Schwester tröstend auf die Schulter. „Also, lass uns an die Arbeit gehen.“ Kornelia verzog leicht das Gesicht, widersprach aber nicht, sondern folgte ihr nach unten.
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