„Willst du das wirklich tun?“, fragte Appolonia und legte den Kranz aus geflochtenen Blüten vorsichtig auf den Tisch. Neslin fuhr sich nochmals mit der Bürste durchs Haar. Der Spiegel ihrer Mutter war gemeinsam mit ein paar Schmuckstücken bereits im letzten Jahr einem fahrenden Händler verkauft worden. So konnte Neslin nur die flachsfarbenen Strähnen mustern, die von den Borsten geglättet wurden.
„Mein Mädchen hat Haare wie Sonnenstrahlen“, erklang plötzlich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Rasch wischte sie sich mit den Handrücken die Augen trocken. Noch vor zwei Jahren war ihre Mutter gesund und die Welt in Ordnung gewesen.
„Natürlich werde ich es tun“, sagte sie mit Entschiedenheit, um Appolonia und vor allem auch sich selbst zu überzeugen. „Oswald ist ein guter Mann. Er hat genügend Vermögen, um für seine Frau und auch für deren Schwester zu sorgen.“
Das waren die letzten Worte ihres Vaters gewesen, bevor sein Wunsch, der toten Ehefrau zu folgen, endlich in Erfüllung gegangen war. Oswald der Goldschmied verdiente mehr Geld als sonst irgendjemand in Braunschweig. Adelsfamilien und Klöster erteilten ihm Aufträge. Er bewohnte das größte Haus in ihrer Nachbarschaft, beschäftigte Dienstboten und besaß sogar ein Pferd.
„Er ist wohlhabend“, gab Appolonia zu und hob Neslins Hochzeitsgewand noch einmal prüfend hoch. „Aber ich finde, er hat etwas Merkwürdiges an sich. Er geht nicht regelmäßig zur Messe. Wer weiß, vielleicht ist er sogar ein heimlicher Heide wie diese wilden Völker im Osten.“
Neslin schüttelte den Kopf. So unwohl ihr auch bei dieser Hochzeit war, derartige Sorgen machte sie sich nicht. „Er arbeitet sehr viel. Vielleicht schafft er es nicht immer zum Gottesdienst.“
„Am Tag des Herrn sollte die Arbeit ruhen“, entgegnete Appolonia.
Neslin unterdrückte einen Seufzer. „Oswald war doch meistens in der Kirche. Manchmal kam er zu spät. Und die wenigen Male, da er fehlte, da gab es sicher einen guten Grund. Mir scheint, dass der Pfarrer ihn einfach nicht mag, deshalb redet er schlecht über ihn.“
Sie stand auf und nahm das Hochzeitskleid an sich. Es war am Saum mit Fuchspelz verbrämt und an den weiten Ärmeln bunt bestickt. Ihre Mutter hatte bereits darin geheiratet, dann hatte es viele Jahre lang in einer Truhe gelegen. Trotz der Not der letzten Jahre hatte ihr Vater es nicht über sich gebracht, dieses letzte Erinnerungsstück zu verkaufen. So hatte sie nun wenigstens ein hübsches Gewand für die Hochzeit, versuchte sie sich Mut zu machen, während sie es überstreifte. Es reichte ihr knapp bis zu den Knöcheln. Ihre Mutter war klein gewesen wie Appolonia. Der leuchtend rote Leinenstoff passte viel besser zu dunklem Haar als zu ihren blonden Strähnen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Ihre jüngere Schwester würde in diesem Gewand viel hübscher aussehen als sie selbst, denn Appolonia war das Ebenbild ihrer Mutter. War sie dem Vater deshalb immer lieber gewesen? Hätte er auch Appolonia, die er für so zart und schutzbedürftig hielt, zu einer solchen Hochzeit gedrängt?
Rasch schlüpfte sie in ihre Schuhe, um diese hässlichen Gedanken zu verjagen. Appolonia war vierzehn, zu jung, um zu heiraten. Die Rolle fiel ihr zu, weil sie die Ältere war. Sie musste dafür sorgen, dass sie beide ein Auskommen hatten.
„Du bist ein wunderschönes Mädchen“, sagte ihre Schwester, als hätte sie die Gedanken erraten. „Wenn du noch ein bisschen wartest, findet sich sicher einer, der dir auch gefällt.“
„Wir können aber nicht warten“, widersprach Neslin und setzte sich den Blumenkranz so heftig auf den Kopf, dass ein paar Blüten zerquetscht wurden. „Wovon sollen wir denn leben? Wir haben kein Erbe, keine Ersparnisse, keine Mitgift. Unsere nächsten Verwandten leben in Münster, und wir wissen nicht, ob sie uns aufnehmen würden. Ich muss froh sein, dass ich in dieser Lage einen wohlhabenden Mann bekomme. Wahrscheinlich hat unser Vater Oswald irgendwann einen großen Gefallen getan. Ein anderer Grund fällt mir nämlich nicht ein.“
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