Flucht aus Formosa

Leseprobe

Flucht aus Formosa - Umschlagabbildung

Tayouan, 1663

„Sie hat Füße so groß wie ein Mann“, hörte Sophie die erste Frau von Zheng Jing, dem ältesten Sohn Zheng Chenggongs, sagen und blieb regungslos über ihre Stickerei gebeugt sitzen. Noch ahnten die meisten hier nicht, dass sie die chinesische Sprache mit jedem Tag besser verstehen konnte. Sie hatte sich an ihren Lieblingsort in der Palastanlage zurückgezogen, eine kleine, schmucklose Pagode hinter dem Gebäude, wo ihr eine kleine Kammer zugewiesen worden war. Meist blieb sie dort unbehelligt, da die fünf anderen Frauen, mit denen sie sich ihr Haus teilte, stets versuchten, dem neuen Herrscher oder seinen Familienmitgliedern zu begegnen und deren Aufmerksamkeit zu wecken.

Sophie, der es nach einem Jahr Gefangenschaft immer noch schwerfiel, sich in dieser chinesischen Welt zurechtzufinden, genoss hingegen jede Möglichkeit, eine Weile unbeobachtet zu sein. Nun war sie durch das unerwartete Auftauchen von drei Frauen, die sich sonst niemals hierher verirrten, in ihrer Ruhe gestört worden. An den kunstvoll verzierten Seidenroben hatte sie gleich erkennen können, dass es sich um Mitglieder der Herrscherfamilie handeln musste. Von der letzten großen Feier im Palast, an der sie hatte teilnehmen müssen, wusste Sophie sogar, welche Rolle diese drei in der weitverzweigten Familie Zheng einnahmen, auch wenn sie ihre Namen nicht kannte.

Zheng Jings erste Gemahlin war klein und zerbrechlich wie eine Porzellanfigur. Die erste Nebenfrau hatte mehr weibliche Rundungen und trug viel Schminke im Gesicht, als wollte sie sich hinter einer Maske verstecken. Die jüngste Frau in der Runde war auch die unscheinbarste. Zheng Jings Schwester verzichtete auf auffälligen Schmuck und Farben. Ihr Körper war so mager, dass Sophie bei ihrem Anblick Mitleid verspürte.

Aber durfte jemand, der wie eine seltene Tierart begafft wurde, überhaupt etwas empfinden? Falls doch, dann waren diese Gefühle unwichtig.

Sophie versuchte, die drei Eindringlinge zu ignorieren, doch ihre Hoffnung, sie würden wieder gehen, erfüllte sich nicht. Die Frauen nahmen auf der Bank in der Pagode Platz, als sei dies ihr bevorzugter Aufenthaltsort.

„Das gelbe Haar ist unnatürlich“, sagte die Konkubine nun. „Kein gewöhnlicher Mensch hat so eine Haarfarbe. Sie muss eine Dämonin sein.“

Sophie hatte sich in den letzten Monaten oft nach eben jenen übersinnlichen Kräften gesehnt, die ihr immer wieder unterstellt wurden.

„Die Ozeanbarbaren hatten rotes Haar, heißt es“, mischte sich nun die Schwester des neuen Herrschers ein. „Vielleicht hat die Sonne auf dieser Insel es ausgebleicht. Ich glaube, sie ist eine ganz gewöhnliche Frau. Sonst wäre sie schon längst in ihre Heimat geflohen. Eine Dämonin kann man nicht einsperren.“

„Vielleicht will sie gar nicht weg“, wandte die Konkubine ein. „Vielleicht …“ Sie beugte sich vor und redete leise weiter: „Vielleicht bleibt sie hier, weil sie uns schaden möchte.“

Drei Augenpaare bohrten sich in Sophies Rücken. Sie zog entschlossen den Faden durch das in einen Rahmen gespannte Baumwolltuch. Das Sticken war eine der wenigen Freuden, die sie in ihrem neuen Zuhause gefunden hatte. Sie vermochte inzwischen schöne Bilder von Blumen und Tieren anzufertigen. Jener griesgrämige Alte mit Fistelstimme, der alle Frauen hier schikanierte, mochte Sophies Arbeiten und konnte sogar ein klein wenig freundlich werden, wenn er ein neues Werk an sich nahm. Wohin er die Stickereien brachte, wusste Sophie nicht. Aber sie ahnte, dass ihr Geschick mit der Nadel der Grund war, warum sie noch nicht als Dienstmagd eingesetzt worden war wie einige andere gefangene Holländerinnen.

„Was auch immer sie ist“, sagte nun die erste Gemahlin und winkte eine Dienstmagd heran, um sich ein Tablett mit Leckereien bringen zu lassen. „Sie ist hässlich. Ich verstehe nicht, warum unser edler Herr Zheng Chenggong sie unbedingt in seinem Haus haben wollte.“

„Als Zeichen seines Sieges“, meinte das magere Mädchen. „Sie war die Tochter seines Feindes. Deshalb ist sie jetzt hier.“

Wieder wandten mehrere Augenpaare sich in Sophies Richtung. Sie duckte sich instinktiv. Manchmal war sie von den Frauen der Familie Zheng angeschrien oder gar mit faulem Obst beworfen worden, weil sie irgendeine der zahllosen, ihr unbekannten Regeln verletzt hatte, nach denen das Leben in dieser hierarchisch gegliederten Gemeinschaft ablief. Sophie war daher meist bemüht, sich wie eine Statue ohne Gedanken und Gefühle zu verhalten. Jene Trophäe, als welche sie gerade bezeichnet worden war. Vielleicht würden die Frauen ihre Existenz mit der Zeit einfach vergessen.

„Su Fei!“, rief die Schwester des neuen Herrschers aber nun. Es klang, als rufe sie nach einem der Schoßhunde. Sophie zögerte einen Moment, dann beschloss sie, dass sie sich wohl oder übel zu der Rednerin würde umdrehen müssen.

Das junge Mädchen hatte ein schmales Gesicht mit so kleinen Augen, dass sie an bloße Striche erinnerten. Der Mund hingegen war ein breiter, grob gezeichneter Balken. Die Proportionen passten nicht, alles wirkte wie willkürlich zusammengeworfen. Obwohl Sophie nicht wusste, welche Frauen bei den Chinesen als schön galten, ahnte sie, dass diese nicht dazugehörte.

„Was wünscht Ihr?“, fragte Sophie leise. Mit den Bediensteten hatte sie schon manchmal auf Chinesisch gesprochen und war zu ihrem Erstaunen verstanden worden. Nun landete die Teetasse der Konkubine klirrend auf dem Tisch, den die Bedienstete aufgestellt hatte. Die erste Gemahlin stieß einen Schreckenslaut aus, als hätte sie eine Statue oder einen der Hunde reden hören.

„Möchtest du Tee?“, fragte die Schwester des Herrschers sehr langsam. Als Einzige in der Runde schien sie nicht völlig fassungslos, dass eine Holländerin des Chinesischen mächtig sein konnte. Sophie bejahte und war überrascht, als ihr von der Rednerin selbst eine Tasse entgegengehalten wurde. Sie hatte keinen Henkel und war aus sehr dünnem, fast durchscheinendem Porzellan. Sophie bedankte sich und führte sie vorsichtig an ihre Lippen. Bisher hatte sie nur in Gegenwart von Dienstmägden zu essen oder zu trinken gewagt, aus Angst, dabei irgendeine falsche Bewegung zu machen.

Sie wurde von den Frauen weiter angestarrt wie eine Geistererscheinung. Allein die unansehnliche Schwester des Herrschers wies recht entspannt auf ihre Stickerei.

„Das ist eine sehr schöne Arbeit.“

Sophie lächelte, biss sich gleich darauf auf die Lippen. Sie hatte vergessen, dass vornehme Chinesinnen niemals ihre Zähne zeigen durften.

Aber sie war keine Chinesin. Auch nicht vornehm.

„Blumen im Garten“, sagte Sophie in der Hoffnung, erneut verstanden zu werden. Es gab in dieser Palastanlage, die aus um verschiedene Höfe gruppierten Holzhäusern bestand, wunderschöne Teiche mit Seerosen und blühende Gartenanlagen.

Nun hielt das magere Mädchen Sophie eine Schale mit frischem Obst hin. Die frisch geschnittenen Mangostücke waren zu verführerisch, um sie ablehnen zu können. Sophie genoss den weichen, süßen Geschmack auf ihrer Zunge.

„Weißt du, wer ich bin? Kennst du meinen Namen?“, fragte die Schwester des Herrschers nun. Sophie versteinerte vor Schreck. Nun steckte sie in einer Falle.

„Ihr seid die Schwester des Herrn Zheng Jing“, brachte sie mühsam hervor. Nur wusste sie den Namen dieser Schwester nicht. Chinesische Namen klangen für sie immer noch alle sehr ähnlich.

„Ich bin Fenzhi“, sagte das Mädchen unerwartet freundlich. „Du kannst heute Abend in meinem Haus mit mir speisen. Ich würde gern mehr über die Ozeanbarbaren erfahren.“

Sophie neigte ergeben den Kopf, denn sie wusste, dass diese Einladung einem Befehl gleichkam. Ehefrau und Konkubine von Zheng Jing machten nun so völlig verblüffte Gesichter, dass Sophie kurz Triumph verspürte.

„Es schadet nicht, mehr von der Welt zu wissen“, sagte Fenzhi zu ihren Gefährtinnen. Beide lächelten auf jene den Chinesen eigene Art, hinter der alle möglichen Gefühle verborgen werden konnten.

> Entstehungsgeschichte
> Handlung
> Überblick / Weitere Romane