Romane

Lockruf der Fremde

Leseprobe

Lockruf der Fremde - Umschlagabbildung

Berlin, Februar 1931

Leonora versuchte, so tief wie möglich in den Wollstoff ihres Mantels zu kriechen. Leider hatte der Wind in Deutschland Messer, die durch jede Ritze stachen und so ungehindert in ihren Körper eindringen konnten. Sie hatte niemals gedacht, dass Kälte schmerzen konnte, doch nun, eine Woche nach ihrer Ankunft in der Heimat ihrer Mutter, hatte sie es endgültig begriffen.

„Du wirst dich daran gewöhnen“, sagte ihr Bruder Paul, der sich seinen Schal ums Gesicht gewickelt hatte, und machte sich auf den Weg zum Gepäckwagen, um dort die Koffer der Familie abzuholen. Leonora sah sich nach ihrer Mutter um, die auch in diesen frostigen Temperaturen einen sehr eleganten Eindruck machte. Der dunkelblaue Mantel passte zu dem in Locken gelegten Blondhaar, auf dem ein farblich abgestimmtes Barrett saß. Bei milderen Temperaturen hätte Leonora darunter gelitten, dass ihr eigenes Kleid weitaus zerknitterter war und ständig verrutschte. Der deutsche Winter hatte auch Vorteile, überlegte sie. Man konnte sich in einen weiten Mantel hüllen wie eine Nonne in ihren formlosen Habit, der alle Eitelkeit überflüssig machte.

Leonoras Mutter wippte ungeduldig mit dem Fuß, während sie sich auf dem Bahnsteig umsah.

„Wo bleibt er denn nur? Hierzulande ist man pünktlich“, murmelte sie verärgert.

„Vielleicht hat dein Galerist begriffen, dass du die chaotischen Verhältnisse in Mexiko lieber magst, und will dir einen Gefallen tun“, murmelte Leonora.

Die Mutter drehte sich zu ihr um und warf ihr einen Blick zu, der einen Hauch von Unmut ausdrückte. Leonora senkte beschämt den Kopf. Sie hatte scherzen wollen, aber im Umgang mit ihrer Mutter bekam jedes ihrer Worte ein zusätzliches Gewicht, das es schwer und sperrig machte.

„Ich meinte nur, dass…“, begann sie, aber bevor sie ihre Erklärung hatte vollenden können, erschien Paul auch schon, gefolgt von einem Trolley, den ein uniformierter Mann schob.

„Es ging ganz schnell!“, rief er. „Das ist das Schöne an Deutschland. In Mexiko hätten wir wahrscheinlich zwei Stunden gewartet und dann mindestens einen falschen Koffer bekommen.“

Er lachte. Die Mutter stimmte ein.

„Dann hätten wir Wetten abschließen können, was vielleicht in dem falschen Koffer steckt“, meinte sie. „Das Leben in Mexiko kann sehr spannend sein.“

Sie umarmte ihren Sohn. Leonora wurde noch ein wenig kälter, da ein heftiger Wind über den Bahnsteig fegte. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander und sie stieß einen kläglichen Laut aus.

Die Mutter merkte es nicht, doch Paul drehte sich zu ihr um und legte seinen Arm um ihre Schultern.

„Kopf hoch! Als ich zum Studium hierher kam, hatte ich Angst, den ersten Winter nicht zu überleben. Aber zwei Jahre später mochte ich den Schnee sogar.“

Leonora fror schlagartig weniger, als könnte die Gegenwart ihres Bruders sogar dem Wind seine Schärfe nehmen.

„Da! Da kommt er!“, rief ihre Mutter nun und begann zu winken.

Ein hochgewachsener Mann schritt durch die tanzenden Schneeflocken auf sie zu. Auch er wirkte tadellos elegant auf die klassische, schlichte Weise der Deutschen, bewegte sich zielgerichtet und diszipliniert. Leonora spürte, wie sie instinktiv ihre Schultern straffte, um keinen schlechten Eindruck auf den Galeristen ihrer Mutter zu machen. Immerhin war es auch ihm zu verdanken, dass es ihnen trotz der politischen Unruhen in ihrer Heimat niemals wirklich schlecht gegangen war.

Als Tobias Winter vor ihnen stand, staunte Leonora vor allem über seine Größe. Er überragte sie um mindestens zwei Köpfe, wirkte mit den graumelierten Schläfen und dem schmalen Gesicht distinguiert und dadurch auch anziehend.

Sie das strahlende Lächeln ihrer Mutter und ihr Magen verkrampfte sich in einer bösen Vorahnung.

Alice Wegener del Rio verstand mit Männern umzugehen, rief sie sich in Erinnerung. Ein weiterer Grund, warum es ihnen niemals so schlecht gegangen war wie einigen anderen Familien in Mexiko zur Zeit der Revolution. Während der Vater sich für Reformen engagierte und stets mit einem Fuß im Gefängnis stand, malte seine Frau unbeirrt ihre Bilder und lernte, sie gewinnbringend zu verkaufen. Sie porträtierte jeden, der dafür zahlte, ganz egal, zu welchem politischen Lager er gehörte. Insgesamt hielt sie sich aus den Konflikten heraus, indem sie sich stets darauf berief, eine Ausländerin zu sein. Dass sie eine überzeugte Anhängerin der Liberalen war und den starken Einfluss der Kirche in der Gesellschaft nicht guthieß, wussten nur ihre Familie und ihre engen Freunde.

Leonora hatte immer gedacht, der Zweck all dieses taktischen Vergehens seitens ihrer Mutter bestünde darin, den Vater bei seinem Kampf um ein freies, gerechtes Mexiko zu unterstützen. Doch jetzt war das Land endlich zur Ruhe gekommen, der Vater hatte ein Amt in der Regierung inne, seiner Familie gehörte ein schönes Haus und ihre Mutter hätte das entspannte Leben einer Frau der gehobenen Mittelschicht führen können.

Stattdessen war sie überstürzt mit zweien ihrer Kinder nach Deutschland aufgebrochen.

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