Das Orchester hatte aufgehört zu spielen, als Männer in schwarzen Fracks die kristallenen Gläser mit Champagner füllten. Viktoria spürte, wie alle Anwesenden erwartungsvoll ihre Blicke auf sie richteten, und zwang sich zu lächeln. Die angesehene Gesellschaft Hamburgs war heute in der Villa der Virchows in Marienthal bei Hamburg versammelt: Adel und Bürgertum, sogar ein paar jüdische Geschäftsleute, denn Viktorias Vater war die Meinung von Leuten, die er für engstirnig hielt, völlig gleichgültig. Er ließ sich daher nicht vorschreiben, mit wem er Umgang haben durfte. Viktoria war derartige Aufmerksamkeit gewöhnt. Ein stetes Stechen von Nadeln und Kämmen an ihrer Schädeldecke drohte Kopfschmerz an, versicherte aber auch, dass ihre Frisur sich weiterhin tadellos türmte. Das Collier aus Saphiren an ihrem Hals stimmte farblich mit der Seide ihres Kleides überein. Sie hatte ihre Zofe Magda das Korsett heute Abend so eng wie nur möglich schnüren lassen, obwohl die Beengtheit ihres Körpers ihr alle Lust nahm, ihren Magen mit den verführerisch duftenden Speisen zu füllen, die bereits serviert worden waren. Doch dieser Tag versprach der Höhepunkt ihres bisherigen Daseins zu werden. Sie musste so vorteilhaft aussehen, wie ihre Erscheinung es zuließ.
Ihr Vater erhob sich. Sie hörte das Quietschen des Stuhls auf den Fliesen, als er ihn zurückschob, und bemerkte, wie alle Gäste sogleich verstummten. Der Herr Virchow war ein kleiner Mann, doch da ihm eine der größten Reedereien Hamburgs gehörte, verdiente er Aufmerksamkeit.
„Es war heute, um diese Zeit, vor genau 21 Jahren. Am 13. August 1859, zwanzig Minuten nach acht Uhr abends“, begann er nun mit bemüht lauter Stimme. „Da erhielt ich das wunderbarste Geschenk meines Lebens: Meine Tochter wurde geboren.“
Viktoria spürte eine Woge der Wärme durch ihren Körper wallen, denn diese Worte klangen völlig ehrlich. Sie sah ihrem Vater in die Augen. Vermutlich hatte nur sie das leichte Zittern seiner Stimme wahrgenommen und konnte erahnen, dass er in diesem Moment Tränen der Rührung niederkämpfte. Für einen Moment waren alle anderen Anwesenden vergessen, sie fühlte sich sicher und geborgen in seiner Liebe. Das schmale Gesicht ihrer Mutter drang nur schwach in ihr Bewusstsein. Sie registrierte die zu dünnen Strichen verengten Lippen und die nach unten gezogenen Mundwinkel. Amalia Virchow hasste öffentliche Gefühlsbekundungen.
„Nun sind wir alle versammelt, um ihren Geburtstag zu feiern. Sie ist volljährig geworden“, fuhr Viktorias Vater fort. Ihre Mutter hob kurz die Hand, um das Orchester an seine Aufgabe zu erinnern. Eine feierliche Melodie erklang. Viktoria erkannte Vivaldis Vier Jahreszeiten, die sie selbst gern auf dem Klavier spielte. Ihr Vater musste dieses Stück ausgesucht haben, denn im Gegensatz zu seiner Gemahlin wusste er, was der Tochter gefiel. Gläser klirrten zum weichen Klang der Geigen, als auf ihren Geburtstag angestoßen wurde. Sie bemühte sich, ihrem Lächeln noch etwas mehr Strahlen zu verleihen, und hoffte, die Aufregung würde keine feucht glänzenden Flecken auf ihr Gesicht treiben. Das Licht der kristallenen Lüster war unangenehm hell. Anton, der bei seiner Familie unter den anderen Gästen stand, warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie nickte nur. Ihr Vater würde die Neuigkeit bald verkünden.
Die Musik konnte das Stimmengemurmel nicht ganz unterdrücken. Viktoria spürte neugierige, neidisch stechende Blicke über ihren Körper streifen. Da stand also die einzige, nun volljährige Erbin des Virchow-Vermögens. In dem Bewusstsein, nicht wirklich anders zu sein als die meisten Mädchen ihres Alters, zog sie trotzig die Schultern zurück. Sobald die Musiker ihre Instrumente gesenkt hatten, sah sie ihren Vater erwartungsvoll an. Nun sollte die wirklich wichtige Veränderung in ihrem Leben öffentlich gemacht werden.
„Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch die Verlobung meiner Tochter mit Anton von Scharpenberg verkünden“, erklärte der Herr Virchow auch schon. Kurz blieb es so still, dass jedes Hüsteln zu hören war. Viktoria stellte sich weiter dem bohrenden Starren der geladenen Gäste, obwohl ihr der Schweiß aus den Poren trat. Dann erklang Applaus, begleitet von aufgeregtem Getuschel.
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