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Die Ketzerin von Carcassonne

Leseprobe

Die Ketzerin von Carcassonne - Umschlagabbildung

1. Kapitel


Der Speisesaal erstreckte sich im Schimmer zahlloser Kerzen vor Adelinds Augen und erinnerte für einen Moment an ein irdisches Paradies. Sie waren nach der Vesper über den Innenhof des Klosters gelaufen, wo Schneewehen wie feine Messerspitzen in ihre Gesichter geschnitten hatten. Mit dem Beginn des Jahres 1203 war der Winter erbarmungslos über das Land hereingebrochen und machte selbst einen kurzen Aufenthalt im Freien zur Qual. Adelind zog ihre wollene Kukulle noch fester um sich, und es widerstrebte ihr, die pelzgefütterten Handschuhe abzulegen, denn ihre Finger darin schienen immer noch so steif gefroren, dass jede Bewegung schmerzen würde. Bereits in der Kirche des Kloster zu den heiligen Makkabäern war es unerträglich kalt gewesen, Adelind hatte das Zittern ihrer Schwester Hildegard deutlich spüren können, als sie so unauffällig wie möglich zusammengerückt waren, um sich gegenseitig zu wärmen. Doch hier im Refektorium prasselte bereits seit längerer Zeit ein Herdfeuer, das gemeinsam mit den Kerzen dazu beigetragen hatte, den großen Raum aufzuwärmen. Adelind zog die pelzverbrämte Kapuze von ihrem Kopf. Ihr Magen knurrte so laut, dass sie fürchtete, jemand könnte es hören und ihr Maßlosigkeit vorwerfen. Bratengeruch kitzelte in ihrer Nase, was den Zustand noch verschlimmerte.

„Hasenbraten“, flüsterte Hildegard und verzog gequält das Gesicht. Adelind staunte wieder einmal über das Talent ihrer Schwester, die jeweilige Fleischsorte auf der Stelle am Geruch zu erkennen, obwohl ihr doch alles Fleischerne zuwider war. Hasenbraten hasste sie ganz besonders.

„Iss wenigstens ein bisschen davon. Es wird dir gut tun. Du siehst so blass aus in letzter Zeit“, sagte Adelind, denn sie wusste nur zu gut, wie gereizt die Äbtissin auf Hildegards heikle Essgewohnheiten reagierte.

„Aber es ist nicht recht“, entgegnete Hildegard nun etwas lauter. „Selbst die Regeln des heiligen Benedikt besagen, dass Mönche und Nonnen nicht das Fleisch vierbeiniger Tiere essen sollten. Und die Zisterzienser …“


„Dies ist ein Benediktinerkloster“, unterbrach Adelind rasch. Warum brachte die sonst so sanftmütige Hildegard sich durch ihre Abneigung gegen den Verzehr von Fleisch stets in Schwierigkeiten? Die Äbtissin begrüßte diese Form der Enthaltsamkeit nicht, da sie wohl erkannt hatte, dass sie in Hildegards Fall keine Entbehrung sondern einen mehr als freiwilligen Verzicht darstellte. Wem Fleisch zuwider war, der sollte seinen Körper eben dadurch kasteien, dass er es aß. Jedes andere Verhalten stellte eine hochmütige Ablehnung der Gaben Gottes dar.

Der üblichen Ordnung gemäß verteilten sie sich rasch an der Tafel. Mutter Mechtildis, die Äbtissin, speiste manchmal mit den Gästen des Klosters oder gar mit dem Propst des Sankt Kunibert Stifts, unter dessen Aufsicht die Nonnen standen, doch heute war sie zugegen, was es Hildegard unmöglich machen würde, den Hasenbraten nicht anzurühren. Dabei hätte es genügend dankbare Abnehmerinnen gegeben. Gerade die Frauen aus dem einfachen Volk, die im Kloster auf Lebenszeit als Konversschwestern beschäftigt wurden, hatten weder das Recht auf Pelz im Winter noch auf regelmäßigen Fleischgenuss. Während sie an ihnen vorbeiging, grübelte Adelind wieder einmal, wie sie es schafften, die kalte Jahreszeit zu überstehen. Die geweihten Schwestern und Novizinnen aus adeligen Familien blieben bei kaltem Wetter meist im Inneren des Klosters, lasen religiöse Texte, kopierten sie, illustrierten Bücher, bestickten Altartücher oder übten sich im Gesang. Sämtliche Arbeiten im Freien waren den Konversschwestern überlassen, denen man hierfür nur ein paar zerschlissene Wollkutten überwarf.

Adelind und Hildegard fanden ihren Platz in der Mitte der Tafel, denn sie hatten erst vor drei Jahren das Gelübde abgelegt und standen daher rangmäßig unter den älteren Schwestern. Nach ihnen kamen die Novizinnen und schließlich die Konversen. Schwester Juliana, ein Liebling der Äbtissin, hatte die Aufgabe, aus der Bibel vorzulesen, während die anderen Nonnen speisten. Gespräche waren streng verboten.

Erleichtert beobachtete Adelind, wie Hildegard ein Stück von dem Braten abriss und auf den Brotfladen vor ihr legte. Dann nippte sie an ihrem Becher mit verdünntem Wein. Ihr Blick war starr auf das Fleisch gerichtet. Einst hatte sie Adelind beschrieben, was sie in solchen Momenten sah. Blutüberströmte Tierleiber und zuckende Muskeln, von denen das Fell heruntergerissen wurde. Allmählich kamen auch Knochen zum Vorschein. Sobald der Leichnam auf dem Bratspieß steckte, triefte Fett wie Eiter aus ihm heraus. Bald schon bohrten gierige Zähne sich hinein, Knorpel knirschten, Sehnen platzten und der Gestank des Todes lag in der Luft.

Obwohl Adelind diesen Ekel gegen einen köstlich duftenden Braten nicht nachzuvollziehen vermochte, stand jene Schwester, die nur wenige Momente nach ihr das Licht der Welt erblickt hatte, ihr so nahe, dass sie ihn einen Wimpernschlag lang ebenfalls empfand.

Sie wandte kurz den Kopf. Alle Nonnen waren damit beschäftigt, ihre Mägen zu füllen und gaben dabei vor, dem Bibeltext zu lauschen. Niemand sah in ihre Richtung.

Adelind bewegte die Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie wusste, dass Hildegard dennoch verstehen würde.

„Mach die Augen zu und schlucke es schnell. Versuche dabei an etwas Angenehmes zu denken. Das Stück ist nicht groß, und bald schon ist nichts mehr von dem Braten übrig. Spül es mit dem Wein hinunter!“

Hildegard biss tapfer zu und begann zu kauen, während ihr Tränen in die Augen schossen. Adelind entspannte sich ein wenig. Der Tag versprach, friedlich auszuklingen, doch da presste Hildegard plötzlich eine Hand vor den Mund, als wolle sie ihren Körper daran hindern, die unerwünschte Nahrung wieder auszuspucken.

„Lass das! Mutter Mechtildis sieht zu uns herüber!“, gab Adelind ihr rasch zu verstehen. Es war ihr in der Aufregung nicht ganz gelungen, auf ein paar Laute zu verzichten, und sie spürte den Blick der Äbtissin vorwurfsvoll auf sich ruhen. Rasch senkte sie den Kopf. Eine Weile blieb es still. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie die Äbtissin sich wieder Schwester Juliana zuwandte, und atmete erleichtert auf. Wenn Hildegard nur endlich den Braten herunterwürgen würde, konnte der Rest des Abends durchaus angenehm verlaufen, denn es war ihnen aufgrund der Eiseskälte gestattet worden, die Gebete für das Komplet als auch für die Nokturn in ihrem Schlafsaal zu sprechen.


Hildegard ließ ihre Hand sinken, tat ein paar tiefe Atemzüge und führte nochmals ein Stück Braten zum Mund. Ihre Augen waren diesmal fest geschlossen, wie Adelind ihr geraten hatte. Sie biss ein Stück ab und presste ihre Lippen aufeinander. Adelind konnte an ihrer Kehle die Schluckbewegung erkennen. Sie schöpfte Hoffnung. Wenn der harte Winter lang andauerte, würde an den Fleischvorräten ohnehin bald gespart werden, was in Hildegards Augen zu den Vorteilen dieser Jahreszeit gehörte. Adelind hatte gerade nach dem Weinkrug gegriffen, um sich nochmals einzuschenken, als sie eine Bewegung an ihrer Seite wahrnahm. Hildegard Kopf hing nun so dicht über dem Teigfladen, dass sie ihn fast mit der Stirn berührte. Die Hand klebte wie festgewachsen vor ihrem Mund.

„Sag, dass du zu den Latrinen musst, wenn dir übel ist. Schnell!“

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