Prolog
Heidelberg, 1610
„Los, komm, hab keine Angst!“
Froni stemmte ihren Fuß auf die Astgabel und vertraute sich Friedrichs Händen an, die sie aufwärts zogen. Das Geäst der hohen Eiche zerkratzte ihr Gesicht, ihr einziges schönes Haarnetz blieb an einem Zweig hängen, und auf einmal vernahm sie zu ihrem Entsetzen das scharfe Geräusch von Stoff, der zerriss. Ihre Mutter würde ihr niemals verzeihen, wenn sie nun ihr Kleid ruinierte. Aber für einen Rückzug war es bereits zu spät.
„Hier verstecke ich mich immer, wenn ich eine Weile meine Ruhe haben will“, sagte Friedrich und zog sie weiter in das Reich von Ästen und Blättern empor. Froni meinte, die prachtvolle, aber enge Welt des Heidelberger Schlosses mit einem Mal verlassen zu haben, und hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich auf einem der Äste ein Gnom oder eine Elfe aufgetaucht wäre. Doch sie war allein mit Friedrich, als sie nebeneinander auf einem breiten Ast Platz fanden. Unter ihnen lag der Schlossgarten, und hinter einem Scherenschnitt aus Blättern und Zweigen war das graue Gemäuer des fürstlichen Gebäudes zu erkennen. Froni verstand auf der Stelle, warum Friedrich so gern hierherkam. Es war, als könne man über der vertrauten Wirklichkeit schweben, sich sicher und doch gleichzeitig frei von allen Verpflichtungen fühlen, die das Leben an einem Fürstenhof mit sich brachte. Auf Friedrich, der nach dem frühen Tod seines Vaters bereits mit vierzehn Jahren Kurfürst von der Pfalz geworden war, lastete noch weitaus mehr Verantwortung als auf der Tochter einer unbedeutenden Hofdame.
„Es ist schön hier“, sagte Froni spontan. „Es freut mich sehr, dass du mir diesen Ort gezeigt hast.“
Sie freute sich tatsächlich so sehr, dass sie spürte, wie ihre Wangen glühten, doch lag dies nicht einfach daran, dass sie den Mut gehabt hatte, auf einen Baum zu klettern. Auf der Burg ihres Vaters, wo das Leben weniger streng reglementiert war, hatte sie oft mit den Kindern der Bediensteten herumgetollt und dabei so einige Dinge angestellt, von denen ihre Mutter zum Glück nie erfahren hatte. Was Froni wirklich mit Glück und Stolz erfüllte, war der Umstand, dass Friedrich ihr soeben sein größtes Geheimnis anvertraut hatte, jenes Versteck, das nur ihm allein gehörte.
Im Frühjahr letzten Jahres war Froni mit ihrer Mutter nach Heidelberg gekommen. Ihr Vater war gestorben, sodass der Familienbesitz in die Hände ihres ältesten Bruders übergegangen war. Leider vertrug die verwitwete Frau von Odenwald sich nicht mit ihrer Schwiegertochter, die sich nun als Hausherrin zu gebärden begann, sodass sie mit Froni, ihrem jüngsten Kind, die Flucht ergriffen hatte. Als junges Mädchen hatte Frau von Odenwald in den Diensten von Friedrichs Mutter, der Prinzessin Louise Juliana von Oranien-Nassau, gestanden, und wurde von dieser großzügig am Heidelberger Hof aufgenommen. Für Froni wäre das nur von Vorteil, hatte die Mutter unterwegs gemeint, denn es war an der Zeit, dass ihre reichlich verwilderte Tochter zu einer jungen Dame erzogen wurde. Immerhin war sie schon zwölf.
Froni hatte die heimatliche Burg zunächst fürchterlich vermisst. Sie hatte es gehasst, jeden Tag steife, schwere Kleider zu tragen und sich ständig nach einem für sie völlig undurchschaubaren Geflecht von Vorschriften richten zu müssen, denen selbst Dinge wie das tägliche Aufstehen, sich Ankleiden und der Verzehr von Mahlzeiten hier unterlagen. Die zahlreichen Ohrfeigen, die sie sich immer wieder von älteren Hofdamen einfing, wenn sie irgendetwas falsch machte, hatten dazu beigetragen, dass sie sich Nacht für Nacht in den Schlaf geweint hatte.
Aber dann war der junge Pfalzgraf von seiner Erziehung am Hof von Sedan heimgekehrt und alles hatte sich verändert. Froni konnte nicht genau sagen, woran es lag, dass er sie zu seiner auserwählten Gefährtin gemacht hatte. Vielleicht hatte er etwas von ihrer Einsamkeit und ihrem Unglück in ihrem Gesicht lesen können und so eine verwandte Seele erkannt. Denn trotz seines strahlenden Aussehens und all der gewinnenden Manieren, die der junge Pfalzgraf an den Tag legen konnte, neigte er tief in seinem Inneren zur Schwermut.
„In Sedan gab es keinen solchen Baum“, erzählte er nun. „Da wurde ich tagaus, tagein von meinen Lehrern drangsaliert, die mich für meine verantwortungsvolle Aufgabe als Fürst und Beschützer der deutschen Protestanten vorbereiten sollten. Doch wenn ich hier oben sitze, da scheint es plötzlich nicht einmal mehr wichtig, ob irgendwo wieder die Katholiken das Sagen haben könnten und welcher Herrscher welches Bündnis mit wem eingeht. Da ist man einfach froh, leben und Gottes Schöpfung bewundern zu können.“
Er sah Froni an und sie bemerkte, wie ernst, fast traurig sein Gesicht wieder einmal geworden war. Sie legte ihre Hand auf die seine und war überglücklich, als er sie nicht gleich wegzog, wie Jungen es allgemein taten, wenn ihnen weibliche Zuneigung zu aufdringlich wurde.
„Eure Hoheit!“, drang eine Männerstimme in ihr heimliches Reich. „Wo seid Ihr? Es gibt wichtige Dinge zu besprechen!“
„Das ist Johann von Zweibrücken, mein Vormund und Lehrmeister“, stellte Friedrich mit betrübter Stimme fest. Froni hatte dies bereits selbst erkannt. Der Calvinist war von Friedrichs Mutter entsprechend den Wünschen ihres verstorbenen Gemahls an den Hof geholt worden. Eigentlich wäre die Rolle des Vormunds dem nächsten männlichen Verwandten, Wolfgang Wilhelm von Neuburg, zugefallen, aber der war Katholik und daher nicht erwünscht. Der ebenfalls katholische Kaiser hatte die Entscheidung stillschweigend geduldet, sodass der befürchtete Konflikt zunächst einmal ausgeblieben war.
„Manchmal“, begann Friedrich leise, „da überlege ich, dass ich einfach hier oben versteckt bleiben könnte. Niemand würde mich finden.“
„Aber wie willst du auf einem Baum überleben?“, fragte Froni erstaunt.
„Nun, ich könnte nachts herunterklettern und nach etwas Essbarem in den Vorratskammern suchen, so wie Ratten oder streunende Katzen es tun. Vielleicht könnte ich mich sogar für ein paar Stunden in irgendeiner dunklen Ecke hinlegen, bevor ich in der ersten Morgendämmerung wieder in mein Versteck klettere.“
Froni musterte ihn mit einer gewissen Verwirrung, denn er hatte todernst geklungen. Zog er tatsächlich einen derart närrischen Plan in Erwägung? Sein Gesicht, das ein Bildhauer nicht hätte edler und klassischer schaffen können, sah weiter melancholisch aus, ein Eindruck, der durch die leicht zerzausten, braunen Locken verstärkt wurde.
„Ich würde dir das Essen bringen“, versprach Froni, ohne weiter zu überlegen, „und dich rechtzeitig wecken, damit du nicht im Schlaf entdeckt wirst.“
Nun blitzte der Schalk in seinen großen, dunklen Augen auf, und Froni fürchtete, vor Scham auf den Boden zu stürzen, weil sie seine Albernheiten nicht sogleich durchschaut hatte. Ihre älteren Brüder hatten sie oft wegen ihrer Gutgläubigkeit gehänselt, die angeblich Mädchen eigen war, da sie von der harten Wirklichkeit viel zu wenig Ahnung hatten. Doch Friedrich drückte plötzlich von selbst ihre Hand.
„Du wärest für jeden Unsinn zu haben“, meinte er anerkennend. „Aber ich fürchte, jetzt müssen wir wieder runterklettern, sonst fällt mein armer Vormund noch vor lauter Angst über mein Wohlergehen und die politischen Konsequenzen meines plötzlichen Verschwindens in Ohnmacht.“
Froni nickte brav. Im Grunde war sie erleichtert, dass Friedrich nicht völlig den Sinn für die Notwendigkeiten des täglichen Lebens verloren hatte, obwohl die Vorstellung, seine einzige, heimliche Verbündete zu sein, ihr durchaus gefallen hatte. Sie schob sich ein wenig vorwärts und versuchte, mit ihren Füßen einen tiefer liegenden Ast zu erreichen. Gern hätte sie Friedrich dadurch imponiert, dass sie selbst herunterklettern konnte.
„Nicht so übereifrig, Froni. Wir warten, bis der edle Johann von Zweibrücken sich weit genug entfernt hat, denn er soll mich ja nicht vom Baum fallen sehen wie einen überreifen Apfel.“
Froni kicherte und war gleichzeitig beeindruckt von Friedrichs Weitblick. Darüber hinaus gefiel es hier, noch eine Weile neben ihm sitzen bleiben zu können, verborgen hinter dichtem Geäst, als seien sie zwei heimliche Verschwörer.
„Wenn ich ein einfacher Ritter wäre …“, begann er plötzlich und wandte sein Gesicht ab, was Froni verstörte. „Also dann würde ich auf die Burg deines Vaters reiten und ihn fragen, ob er sich eine Verbindung zwischen meinem Haus und dem seinen vorstellen kann.“
„Aber mein Vater ist doch schon tot“, meinte Froni kleinlaut.
„Oh, das hatte ich leider vergessen. Dann eben deinen Bruder, aber den magst du ja nicht gut leiden, nicht wahr?“
Froni nickte stumm. Das Herz hüpfte wie ein unruhiger Ball in ihrer Brust, und sie war dankbar, dass dichtes Geäst das Tageslicht filterte, denn wieder brannten ihre Wangen. Aber das Gefühl, das sie dabei durchflutete, war durchaus angenehm. Sie kannte es aus ihrer frühen Jugendzeit, wenn der Vater sie anstatt all ihrer Brüder auf seinen Schoß gesetzt und sein Herzenskind genannt hatte.
„Aber du bist kein einfacher Ritter“, fiel ihr ein, und das Gefühl wurde wie ein Windhauch ins Geäst geblasen. „Sonst wäre ich mit dir davongerannt, wenn mein Bruder dein Angebot abgelehnt hätte.“
Sie erschrak, weil sie sehr laut gesprochen hatte. Friedrich zog seine linke Augenbraue hoch. Wieder sah sie den Schalk in seinen Augen blitzen und fragte sich, ob sie ihn ernster genommen hatte, als angebracht war.
„Ich bin der Kurfürst von der Pfalz, der Beschützer aller deutschen Protestanten. So auch deiner.“
Leider gab es sehr viele andere junge Frauen, deren Beschützer er ebenso war. Froni wurde wieder bewusst, wie unwichtig sie eigentlich war.
„Sobald ich mündig bin und keinen Vormund mehr habe, kann ich tun, was mir gefällt“, verkündete Friedrich stolz. Dann griff er in den kleinen Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing, und zog eine Schnur heraus. Eine kleine Holzschnitzerei baumelte daran.
„Das ist ein Eulenküken“, sagte er. Diese Erklärung war auch notwendig, denn Froni konnte nichts weiter als eine Art verwachsenen Gnom erkennen. Holzschnitzerei gehörte leider nicht zu Friedrichs Stärken.
„Als ich dich das erste Mal sah, in der Gefolgschaft meiner Mutter, und du dich hinter den Röcken der älteren Hofdamen versteckt hattest, aber gleichzeitig versuchtest, so viel wie möglich zu sehen zu bekommen, da kamst du mir vor wie eine aus dem Nest gefallene, kleine Eule.“
Froni schluckte. Sie wusste nicht, ob sie diese Beschreibung schmeichelhaft finden sollte. „Ich war eben neugierig“, erklärte sie verlegen.
„Und gleichzeitig schüchtern. Aber auch frech und neunmalklug. Ich habe gleich geahnt, dass du ein Mädchen bist, mit der ein Mann Unsinn anstellen kann, ohne dass sie gleich von Sünde und ewiger Verdammnis spricht oder einfach entsetzt davonläuft. Deshalb möchte ich dir diese Kette schenken.“
Froni stieß ein nervöses Kichern aus. Zwar sah die missglückte Schnitzerei weiterhin nicht wie eine Eule aus, aber was machte das schon? Sie hätte über ein kostbares Juwel nicht glücklicher sein können. Vermutlich war dies der Augenblick, um einen geistreichen Scherz zu machen, denn Friedrich schätzte wortgewandte Menschen. Aber ihr wollte einfach nichts einfallen als ein schlichtes Wort des Dankes. Glücklicherweise sah Friedrich nicht enttäuscht aus.
„Wir gehören zusammen, Froni. Ganz gleich, was noch geschehen mag“, versprach er. Zwar tanzte immer noch sanfter Spott in seinen wunderschönen Augen, aber seine Stimme klang ernst.
„Zusammen für immer“, plappert sie munter drauflos und neigte ihr Gesicht zu dem seinen. Er zögerte einen winzigen Augenblick, dann streiften seine Lippen ihre Wange. Froni schloss die Augen. Eine merkwürdige Unruhe fuhr durch ihren Körper, als krabbelten aufgebrachte Ameisen darin herum. Vielleicht würde Friedrich sie jetzt auch noch umarmen, wie ihr Vater es manchmal getan hatte.
Aber er wandte sich ab.
„Es ist Zeit, nach unten zu klettern, kleine Eule. Sonst löst mein vermeintliches Verschwinden noch den nächsten Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken aus.“
Mit einem geschickten Sprung gelangte Friedrich auf den Ast unmittelbar unter ihnen, doch geriet er gleich darauf ins Schwanken. Froni streckte ihre Hände aus, um seinen Absturz zu verhindern.
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