Tanz bis ans Ende der Welt

Leseprobe

Tanz bis ans Ende der Welt - Umschlagabbildung

Endlich, dachte Zhang Penjun, als sie ihren Koffer auf dem Bahnsteig abgestellt hatte und die sogar am Bahnhof erstaunlich frische deutsche Luft einatmete. Endlich bin ich da.

Sie hatte fast zwei Wochen auf dem Schiff zugebracht, in der dritten Klasse, denn mehr hatte sie sich nicht leisten können. Dann war sie in Marseille angekommen und hatte noch fast ganz Europa durchqueren müssen, ohne sich irgendwo ein Hotelzimmer zu gönnen, weil sie unnötige Ausgaben hatte vermeiden wollen. Daher hatte sie auf Bahnhöfen geschlafen, wenn kein Nachtzug verfügbar gewesen war. Auf den harten Holzbänken hatte sie sich wenigstens ausstrecken können, während die sitzend in einem ratternden Zug verbrachten Nächte qualvolle Nackenschmerzen verursacht hatten. Glücklicherweise hatte niemand ihren Koffer oder gar ihre Handtasche gestohlen, obwohl sie nicht in der Lage gewesen war, ständig darauf aufzupassen. Es mochte daran liegen, dass man sie für eine mittellose Fremde auf der Suche nach irgendeiner Arbeit gehalten hatte, die selbst schlecht ausgebildete Europäer nicht annehmen würden. Manchmal hatten Leute versucht, Gespräche mit ihr zu beginnen. Sie war stolz auf ihr Englisch, das von Miss Emerson, der Gouvernante aus Liverpool, als exzellent bezeichnet worden war. Leider hatte aber keiner der Franzosen oder Deutschen, die mit ihr hatten reden wollen, diese Sprache beherrscht. Daher hatten sie sich auf Gesten beschränken müssen. Penjun hatte stets abgewunken, wenn jemand ihr etwas hatte anbieten wollen, egal wie freundlich diese Leute gewirkt hatten. Sie wusste aus ihrer Heimat, welche Gefahren einer jungen Frau in dieser Welt drohten, wenn sie allein und schutzlos war. Sogar die halbe Stange Weißbrot, die ein angetrunkener Mann am Bahnhof von Paris ihr grinsend hingehalten hatte, hatte sie ausgeschlagen, ohne auf das sehnsüchtige Knurren ihres Magens zu achten.

Von den Bediensteten im Haus ihrer Eltern hatte sie erfahren, dass ein Mensch Hunger längere Zeit ertragen konnte, ohne deshalb gleich zusammenzubrechen. Gelegentlich hatte sie sich einen heißen Kaffee gegönnt, der für eine Weile ihren Magen gefüllt hatte und vor allem ihre Lebensgeister hatte erwachen lassen. Ab und an war ihr auch ein Apfel vergönnt gewesen, denn sie hatte in Marseille eine ganze Tüte davon als Reiseproviant erstanden. Jetzt war sie deutlich magerer als bei ihrer Abreise aus Shanghai, außerdem verschwitzt, schmutzig und schlecht frisiert, aber all diese Missstände würde sie wieder in Ordnung bringen können, wenn sie ihr endgültiges Ziel erreicht hatte.

Ihr Verlobter hatte eine Wohnung in Berlin, die seine Familie ihm großzügig bezahlte. Dort gab es sicher ein Bad mit fließendem Wasser, denn laut Miss Emerson hatten Europäer das alle, egal ob reich oder arm. Sie würde sich sattessen können, dann waschen und schließlich schlafen, so lange sie wollte. Nach ein paar Tagen der Erholung wäre sie wieder die elegante junge Frau, die Jack Huang vor drei Jahren in Shanghai kennengelernt hatte.

Sie lief der Menge hinterher wie ein folgsames Hündchen. Inzwischen war sie es gewöhnt, von Menschen umgeben zu sein, die fast alle deutlich größer waren und ihr manchmal neugierige Blicke zuwarfen, als sei sie eine vom Himmel herabgestürzte Außerirdische. Hier hielt sich das glücklicherweise in Grenzen, da alle es eilig hatten, an irgendein Ziel zu kommen.

Als Penjun ins Freie trat und erleichtert feststellte, dass auch in Berlin eine milde Frühjahrssonne schien, fiel ihr plötzlich ein, dass sie den Weg an ihr eigenes Ziel nicht wirklich kannte.

Sie stellte den Koffer ab, lehnte sich an die Außenwand des Bahnhofsgebäudes und begann, aufgeregt in ihrer Handtasche herumzuwühlen. Sie hatte den letzten Brief ihres Verlobten in ein Seitenfach gesteckt, zusammen mit dem Rest jener Dollars, die sie in Shanghai mit ihrem Chinesischunterricht verdient hatte. Außerdem hatte sie noch den Goldschmuck – Geschenke ihrer Familie, die sie eigentlich gern behalten wollte. Im Notfall würden die Juwelen zum Pfandleiher wandern müssen, aber so, wie es jetzt aussah, wäre das erst einmal nicht notwendig.

Penjun bemühte sich, die Adresse auf dem Umschlag zu entziffern. Wielandstraße 36. Würden die Berliner sie verstehen können, wenn sie den Namen so vorlas, wie Miss Emerson es getan hätte? Sie musste es darauf ankommen lassen.

Jack hatte geschrieben, dass seine Wohnung recht zentral lag. Vielleicht wäre es möglich, dort vom Bahnhof aus zu Fuß hinzulaufen. Penjun wollte ihre finanziellen Reserven nicht gleich aufbrauchen, und außerdem wäre es wohl notwendig, die Dollars in deutsches Geld umzutauschen. Bereits in Frankreich hatten nicht alle Händler sie akzeptieren wollen.

Sie atmete tief durch. Ihr Magen knurrte gierig, sodass sie den nächsten Apfel aus der Tasche zog. Drei waren noch übrig, aber nun würde sie bald nahrhafteres Essen bekommen.

Penjun überlegte, einen Stadtplan zu erwerben, aber ihre Sparsamkeit sowie die Angst, nicht mit Dollars zahlen zu können, brachte sie wieder davon ab. Sie würde jemanden fragen. In Shanghai war das der einfachste Weg, sich zurechtzufinden, nur musste man aufpassen, nicht in eine Falle gelockt zu werden. Aber Europäer waren anders. Miss Emerson hatte immer von der Anständigkeit und moralischen Aufrichtigkeit ihrer Landsleute geschwärmt. Deutsche mussten ähnlich sein. Daher gab es keinen Grund, ihnen zu misstrauen.

Sie ergriff den Koffer, fasste ihren ganzen Mut zusammen und ging auf einen etwa sechzehnjährigen Jungen zu, der die Straße entlangschlenderte. Seine Kleidung war sauber, aber nicht so edel, dass er das Gespräch mit einer zerknautschten, übermüdeten Fremden für unter seiner Würde halten könnte. Wahrscheinlich war er ein Schüler oder ein Facharbeiter. Sie stellte sich ihm mutig in den Weg.

»Sorry. Can you help?«

Sein Gesicht verriet nur allzu deutlich, dass er nicht in den Genuss von regelmäßigem Englischunterricht gekommen war. Dennoch lächelte er freundlich und sagte irgendetwas. Penjun hielt ihm den Umschlag mit Jacks Adresse unter die Nase.

»Where ist that? Can you show me? I will give you money.«

Sie holte einen Dollarschein heraus und zeigte ihn dem Jungen. Sein Blick wurde schlagartig aufmerksamer. Er las kurz die Adresse und winkte ihr zu, ihm zu folgen.

So einfach also war es, dachte Penjun erfreut.

Gemeinsam liefen sie los. Der Junge machte lange Schritte, und sie musste manchmal rennen, um ihm zu folgen. Aber das war gut, sagte sie sich. So käme sie schneller ans Ziel.

Während Berlin zunächst sehr sauber, weitflächig und wohlhabend gewirkt hatte, gerieten sie nun in enge und deutlich schmuddeligere Straßen. Diese Gegend war nicht ganz so dreckig wie manche Teile von Shanghai, entsprach aber nicht dem Bild jener besseren Welt, das Miss Emersons Europa gewesen war. Dieser Umstand beruhigte Penjun sogar ein wenig, denn sie musste sich hier nicht wie eine Kreatur von minderwertiger Herkunft fühlen. Dennoch hoffte sie, dass Jack in einer etwas schöneren Gegend wohnte. Immerhin besaß sein Vater in Shanghai mehrere Juweliergeschäfte.

Aber je tiefer der Junge sie in die Gassen Berlins eintauchen ließ, desto mehr Gestank und Schmutz nahm sie wahr. Zerlumpte Gestalten hockten am Straßenrand, Mülltonnen quollen über und einige der Fensterscheiben waren mit Zeitungspapier ausgebessert worden, weil jemand sie eingeschlagen haben musste. Penjun hatte schon Schlimmeres gesehen. In Shanghai gab es Orte, wo man über die Leichname ausgesetzter weiblicher Säuglinge stolperte und mitbekam, wie ältere unerwünschte Töchter an Bordelle verkauft wurden. Aber wohlhabende Leute lebten in anderen Vierteln. Jacks Familie hatte ein hübsches Haus ein Stück vom Bund, der Uferpromenade in Shanghai, entfernt, wo auch Amerikaner und Europäer sich niedergelassen hatten.

Offensichtlich lebten Deutsche nicht alle so. Penjun musterte die heruntergekommenen Fassaden der Häuser und sah graue Wäsche an Leinen baumeln. Viele Chinesen hätten es wahrscheinlich als Luxus empfunden, hier einzuziehen, denn immerhin waren die Mauern aus Stein, und vielleicht gab es auch fließendes Wasser. Aber Jack war Besseres gewöhnt. Schickte sein Vater ihm so wenig Geld? Sie fürchtete, dass er das in seinen Brief unerwähnt gelassen hatte, um sich keine Blöße zu geben.

»Where is it? Is it far?«, fragte sie ihren jugendlichen Führer ohne echte Hoffnung, verstanden zu werden. Der Junge blieb kurz stehen und musterte sie unschlüssig. Erst jetzt fiel ihr auf, wie fahl seine Gesichtsfarbe war. Aber waren weiße Menschen nicht immer blass? Miss Emerson hatte wenigstens keine so dunklen Schatten unter den Augen gehabt, obwohl sie deutlich älter gewesen sein musste.

»Komm, komm …«, rief der Junge.

Diese Worte verstand sie und lief ihm daher weiter hinterher. Es ging nun in eine kleine Seitengasse, wo Penjuns Schuhe im Schmutz versanken und sie mehrfach über Unrat stolperte. Drei halbwüchsige Mädchen lungerten rauchend an einem Hauseingang herum. Bei Penjuns Anblick begannen sie zu glotzen, als hätten sie einen Geist erblickt. Eine von ihnen, deren Gesicht von einem großen blauen Fleck entstellt war, kicherte.

»Tschingtschangtschong«, rief sie.

Penjun drehte sich ratlos zu ihr um. »I do not understand«, erklärte sie höflich, denn sie hatte dieses Wort noch nie gehört.

Alle drei Mädchen krümmten sich plötzlich vor Lachen. Der Junge rief ihnen etwas zu, das sie verstummen ließ, packte auf sehr unhöfliche Weise Penjuns Arm und zerrte sie weiter. Sie stolperte ihm hinterher, denn sie war erleichtert, in dieser feindseligen Umwelt nicht völlig allein zu sein. Sobald sie Jack endlich gefunden hatte, würde sie ihn fragen, was dieses seltsame Wort bedeutete.

Es ging ein Stück weiter die Straße entlang. Ein halb verfallenes Haus tauchte auf, dessen Eingangstür zur Hälfte eingeschlagen war. Penjun vermutete, dass Bettler darin lebten, denn leere Flaschen und Lumpen lagen davor herum. Gleich dahinter tat sich eine Gasse auf, in der deutlich kleinere, aber ähnlich heruntergekommene Gebäude standen. Bis auf ein paar magere Hunde war dort niemand zu sehen. Als der Junge sie hineinziehen wollte, weigerte Penjun sich kurz, denn es kam ihr vor, als entfernte sie sich mit jedem Schritt von ihrem Ziel, anstatt ihm näher zu kommen.

Der Junge ließ ihren Arm los, sah sie ungeduldig an. »Komm! Komm!«

Penjun überlegte, wohin sie sonst noch laufen konnte. Sie hätte allein nicht einmal mehr den Weg zurück zum Bahnhof gefunden, und es gab hier auch niemanden, der besonders hilfsbereit gewirkt hätte. Ihr blieb kaum etwas anderes übrig, als diesem Führer weiter zu vertrauen. Vielleicht wohnte Jack tatsächlich in einem dieser Häuser und hatte es nicht gewagt, ihr darüber zu schreiben.

Sie war schon an drei der niedrigen Gebäude vorbeigelaufen, als der Junge sich plötzlich umdrehte und sie mit an einem Schubs gegen die Wand einer hölzernen Hütte drückte.

»Money!«, rief er. Ein wenig Englisch konnte er also doch.

»Ich gebe dir Geld, wenn wir am Ziel sind«, erklärte Penjun ebenfalls auf Englisch und musterte ihn vorwurfsvoll.

Er senkte verlegen den Blick. Die ganze Lage schien ihm ebenso unangenehm wie ihr selbst. Er deutete mit dem Finger auf ein größeres Haus weiter geradeaus.

»Money!«, wiederholte er hartnäckig.

Penjun beschloss, ihm drei ihrer Dollarscheine zu überlassen. Falls Jack tatsächlich dort wohnte, wäre sie dem Jungen Dank schuldig. Falls nicht, wollte sie ihn wenigstens loswerden, denn die Art, wie er sie jetzt unter Druck setzte, gefiel ihr nicht.

Leider schien er nicht zufrieden mit den Dollarscheinen, denn er stieß weiter unverständliche Worte hervor und klang dabei vorwurfsvoll. Penjun überlegte, was sie ihm noch geben sollte, da packte er plötzlich ihre Handtasche und riss sie mit einem Ruck an sich. Sie hörte das Knirschen seiner Schuhe auf dem Kies, als er davoneilte.

Penjun war das erste Mädchen in ihrer Familie gewesen, das von der qualvollen Prozedur des Füßebindens verschont worden war. Vielleicht hatte dieses Wissen sie dazu gedrängt, so oft und lang wie möglich zu laufen, um auszukosten, was ihr dank westlicher Modernisierung vergönnt war. Ihre Mutter hatte es nicht gemocht, dass ein Mädchen auf dem Landsitz der Familie mit seinen drei Brüdern über Stock und Stein um die Wette rannte. Sogar Miss Emerson hatte manchmal darauf hingewiesen, wie undamenhaft dieses Herumtollen im Freien war. Aber niemand hatte es geschafft, Penjuns Beine zum Stillstand zu zwingen.

Das erwies sich nur als vorteilhaft, denn sie hatte den Dieb eingeholt, noch bevor er um eine Ecke biegen konnte. Wütend packte sie ihr Eigentum und zerrte daran. Der Junge war schwächer als angenommen, und bald schon konnte Penjun ihre Handtasche wieder an sich drücken. Heftig atmend stand sie eine Weile da. Die Erinnerung an den verzweifelten Blick des Jungen, als sie ihm die Beute entrissen hatte, löste unsinnige Schuldgefühle in ihr aus.

Es gab überall arme Menschen. Offenbar auch in Berlin. Aber sie hatte ihr Geld, ihren Reisepass und ihren Schmuck wieder. Der Verlust dieser Dinge wäre eine völlige Katastrophe gewesen, der sie knapp entgangen war, und das schenkte ihr neue Zuversicht. Jetzt musste sie nur zu dem Gebäude gehen, das der Junge ihr gezeigt hatte, und hoffentlich fand sie dort Jack. Falls nicht, würde sie eben Geld in einen Stadtplan investieren, was von Anfang an die bessere Idee gewesen wäre.

Entschlossen kehrte sie an die Stelle zurück, wo der Junge sie hatte zurücklassen wollen. Dann wich plötzlich alle Energie aus ihrem Körper, sie schnappte nach Luft und musste sich an der Hauswand abstützen, um nicht umzukippen.

Dort, wo sie ihren Koffer abgestellt hatte, um dem Jungen hinterherzurennen zu können, war jetzt nichts außer ein bisschen Schlamm und einer zerbrochenen Bierflasche, die sie vorhin schon gesehen hatte. Jemand musste ihre kurze Abwesenheit genutzt haben, um das Gepäckstück an sich zu reißen.

Ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Wer auch immer den Koffer hatte, musste sich noch in der Nähe befinden. Sie sah sich um, erblickte aber keinen einzigen Menschen. Der Dieb hatte sich wieder in jenem Unterschlupf verkrochen, aus dem er nur kurz herausgekommen war, um seine Beute zu holen.

»Bitte, ich brauche meine Sachen!«, rief sie auf Englisch. »Ich … ich werde dafür zahlen. Zwei Dollar. Oder drei!«

Es blieb still, nur auf einem Baum in der Nähe krächzte ein Vogel, als wolle er Penjun auslachen. Berliner Kriminelle hatten sicher keine Gouvernante wie Miss Emerson gehabt. Davon abgesehen war es wohl keine gute Idee, zu viel Aufmerksamkeit auf das Geld in ihrer Handtasche zu lenken.

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